pandemie fotografie/lockdown momente
traumzeit: mit dem plötzlichen bruch der alltagsroutine, der gewohnheiten, veränderte sich auch die wahrnehmung, ein unbekannter trott stellte sich ein, eine pelzige, mehltau überzogene neue wirklichkeit. sanft auf und abrollende wellen aus tag und nacht, schlafwandlerisch, verworren einer rätselhaften musik gleichend, wie verwehte klänge abgelegter instrumente, nur die gleichförmigen bewegungen der musiker wollen nicht verebben und beschwören ihr echo.
„abends sterbe ich, morgens werde ich wiedergeboren“, das zwischenreich der nacht ist etwas anderes, jeder deutung sich entziehendes, die träume des stärkenden schlafs wirken wie nur geliehen, sie gehören mir scheinbar nicht allein, aber wem sonst?
jucken, kratzen, jucken, kratzen, mehr jucken, noch mehr kratzen und so weiter, „lachen ohne ende…*“
fußpilz war noch mit das beste in dieser seltsamen zeit, in der wir zu inseln wurden in einem virtuellen ozean.
* mit dieser Floskel beendete Martin Bickel seine Ausführungen gerne in vertrauter Runde. Wir sahen uns nicht mehr so häufig in den vergangenen Jahren, aber er war wie gewohnt guter Dinge und optimistisch gestimmt was die zukunft betrifft, obwohl seine momentane Lage sehr unerfreulich war -denn er lebte wieder wie üblich allein, aber in einer notunterkunft, nachdem eine mit großen Hoffnungen verbundene Beziehung endete – damals, bei unserem letzten Kaffeebesuch voriges Jahr, draußen sitzend, bei angenehmem Frühlingswetter. unter anderem sprachen wir über unsere perspektiven, nach der gemeinsamen zeit, nach den vielen wechselfällen über die jahre hinweg. im Verlauf der unterhaltung ging es auch um die geplante Ausstellung „9/11 and other incidents“, ein Rückblick auf meine künstlerischen arbeiten zum thema 9/11, der Anschläge auf das World Trade Center von 2001. beiläufig erwähnte ich die schleichenden Angst, die unbestimmte Erwartung eines neuerlichen Unglücks in Verbindung mit dem nahenden 20. Jahrestag dieses tragischen epochalen ereignisses. über den sommer mailten wir noch das eine oder andere mal, aber es sollte unser letztes Treffen bleiben, denn Martin starb völlig unerwartet am 11. September 2021. diese traurige nachricht erreichte mich spät, da ich keine social-media kanäle nutze. Martin wurde anonym beerdigt, er hatte 600 facebook-Freunde, aber nur wenige haben Notiz genommen… er fehlt mir sehr.
während der pandemie sind bekannte, freunde, und verwandte gestorben, viele beziehungen wurden auf die probe gestellt, oder gingen in die brüche… mit diesem neuen, wider meinem naturell, unguten grundgefühl, unter dem eindruck der im lockdown veränderten alltagswahrnehmung und die sich neu einstellenden verhaltensweisen hinterfragend, begann ich in der umgebung nach motiven zu suchen, die (meine) stimmungen, auch heitere, transportieren und dem unerklärlichen irgendwie ausdruck verleihen sollten. diese zwischen mai 2020 und anfang 2022 gemachten bilder entstanden zumeist hier vor ort in karlsruhe, häufig in seitenstraßen, auf brachen, im niemandsland. den blick gerichtet auf die gefühlt rapide zunehmenden verwerfungen um uns herum, die den kanten und aussparungen einer halbvollendeten modelleisenbahn-landschaft ähneln, gestaltet von völlig unbegabten. vielleicht geht es mir, dem voyeuristischen betrachter ähnlich wie der schlafenden kassiererin des kettenkarusells, an einem regentag vergeblich auf kinder wartend; uns erscheint sein imaginäres rasseln und kreiseln wie eine vage Erinnerung. in der zusammenfassung sind diese eindrücke zu einer art tagebuch, einem visuellen erinnerungsbuch geworden, wenn man so will, meine reise in 80 seiten um die pandemie, titel: pandemie fotografie/lockdown momente**. eine auswahl dieser Fotos, mit schwerpunkt graffity auf dem areal-c, war anfang 2022 in der gleichnamigen ausstellung im the hair cafe zu sehen und parallel dazu in einer schau in der radlerhalle im gewerbehof.
herzlichen dank für dieses Projekt an amanda, betty, berthold, dr. esser, patrick und sergej vom the hair cafe, yuji & radlerhalle, den künstlern, markus jäger & dailysign und den fantastischen streetart künstlern vom areal-c. dieses weitläufige areal der stadt karlsruhe kann man als zeugnis der nachkriegszeit betrachten, denn es beherbergte als teil des paul-revere-village, vulgo amisiedlung, u.a. die versorgungseinrichtungen der us-army mit den zugehörigen hangars des angrenzenden alten flugplatzes, schauplatz großer nato-reforger-manöver noch in den 1980er jahren. seinerzeit war es für uns „off limits“, gegenwärtig wird es dem erdboden gleich gemacht, wohnungen sollen entstehen. den mir bis dato unbekannten streetart künstlern, die hier bei einem contest mit ihrer flüchtigen kunst auf so großartige weise unterschiedlichste signaturen hinterließen, gebührt besondere aufmerksamkeit. dank auch an alle nicht genannten für unerlässliche hilfe und inspiration. gewidmet dem südafrikanischen musiker larry-joe, harald, martin und hanspeter. r.i.p.
vertrautes, orte und freunde, die schneller verschwinden wie wir wirklich wahrnehmen und verarbeiten können. josef steiner-faath
** „lockdown momente – pandemie fotografie“ das buch ist auf wunsch erhältlich, hardcover matt, 30×30 cm, 80 seiten, signiert. preis 120 euro, zzgl. Versand